Zu Beginn des Abends ging ich, wie gewöhnlich um diese Stunde, ins Café
„Herrenhof“; ich hatte dort eine Verabredung mit einem meiner reichsdeutschen
Emigranten, einem ausgezeichneten lyrischen Dichter. Wir besprachen, wie seine Abreise aus
Wien rasch zu
bewerkstelligen wäre, und ich gab ihm ein wenig Geld. Dann wandte sich unser Gespräch
literarischen Dingen zu, und wir diskutierten eben, sehr in den Gegenstand versunken, die
Verse Stefan Georges, als mich eine Hand sanft an der Schulter
berührte. Neben mir stand mein Freund Otto, sehr blaß, aber ganz ruhig.
Er sagte: „Vor zehn Minuten hat Schuschnigg
im Radio verkündet, er danke ab, und man solle den einrückenden deutsche Truppen nur keinen
Widerstand entgegensetzen.“
Ich sah um mich und bemerkte, daß die große Kaffeehaushalle fast leer war. Auch der Kellner war nicht zu finden. Ich
fürchte, ich bin dem Café
„Herrenhof“ meine letzte Konsumation schuldig geblieben, eine „Schale
Nußbraun“. Mit Otto verließ ich rasch das Café
und nahm in der Herrengasse ein Taxi. In den Straßen war kein Mensch. Zu Hause öffnete ich
einen schon bereit stehenden Handkoffer, der den nötigsten Reisebedarf enthielt, und stopfte
rasche Anzahl Papiere hinein, alle auf meine Funktionen bei der „American Guild“ bezüglich.
Wenigstens das sollten die Nazis nicht finden. Unterdessen sah Otto im
Fahrplan nach. Der nächste Zug ins Ausland ging in einer Stunde vom Nordbahnhof ab.
Ich überlegte, ob ich nicht noch eine Stunde länger warten und bei Ödenburg über die ungarische Grenze fahren
sollte, dann entschied ich mich leider für die tschechoslowakische
Grenzstation Lundenburg. Den Weg in die Schweiz zu nehmen,
wagte ich nicht mehr, überzeugt, daß die Westbahnstrecke schon in den Händen der Nazis sein
müsse.
Ich nahm einen kurzen, schmerzlichen Abschied von meiner lieben, alten Haushälterin und
fuhr mit Otto zum Bahnhof. Ich kam früh genug, um
im Zug noch einen Sitzplatz zu finde; wenige Minuten darauf waren alle Coupés überfüllt. Ich
kannte die meisten meiner Mitreisenden persönlich oder wurde von ihnen gekannt; sie waren
fast alle auf irgendeine Art „prominent“ und hatten alle triftige Gründe, Österreich
rasch zu verlassen, sei es, daß sie gegen die Nazis aufgetreten waren, sei es, daß sie
einfach Juden waren und mit großem Recht den kommenden antisemitischen Terror fürchteten.
Einer meiner Coupégenossen war der in Wien berühmte jüdische Komiker Fritz
Grünbaum; er hatte allabendlich in einem Cabaret ausgezeichnete Witze
vorgetragen, die ihn bei den völlig humorlosen Nazis keineswegs so beliebt gemacht hatten
wie bei dem Rest seines Publikums. Ein anderer war Robert Danneberg, ein führendes Mitglied der
sozialdemokratischen Partei und ein Funktionär der einstigen Wiener
Gemeindeverwaltung.
Im letzten Augenblick erschien auf dem Bahnsteig Hedwig F.,
Ottos Cousine und Freundin seit fernen Jugendtagen, unverheiratet,
trotz einer ganz kleinen Statur robust und energisch, eine bewährte Bergsteigern und gute
Kameradin. Sie hatte beschlossen, mich nicht allein reisen zu lassen; meine Krankheit machte
nämlich meinen Freunden viel Angst, und sie trauten mir nicht zu, den Strapazen und
Aufregungen einer Flucht allein standzuhalten.
Wir fuhren. Die damalige Grenzstation Lundenburg ist von
Wien nicht viel
mehr als zwei Schnellzugstunden entfernt, aber es waren zwei Stunden voll fürchterlicher
Spannung. Würden wir glatt über die Grenze kommen? Wohl hatte jeder von uns einen gültigen
Paß; der meine war erst am vorhergehenden Tag auf fünf Jahre erneuert worden, ein
Prachtexemplar von einem braungelben österreichischen
Paß, für alle Länder der Erde gültig. Pässe
hatten meine Reisegefährten auch, aber nicht alle hatten die bestehenden Vorschriften über
die Ausfuhr von Devisen so mustergültig eingehakten wie ich und hatten nun Angst, man könnte bei
der Grenzrevision ihre im Gepäck versteckten Gelder finden.
Wir kamen an den Lundenburg gegenüberliegenden österreichischen
Grenzort.
Dort hielt der Zug lange Zeit, ohne daß jemand zu uns ins Coupé gekommen wäre, um unsere
Pässe oder unser Gepäck zu revidieren. Vermutlich herrschte an diesem Abend in der
Grenzstation Unordnung; die neuen Herren Österreichs
mochten ihre Kontrollen noch nicht organisiert haben. Auf einmal – wir trauten unseren
Sinnen nicht – setzte sich der Zug wieder in Bewegung und fuhr weiter, über die Grenze, in
die freie Tschechoslowakei hinein! Eine dumpfe Beklemmung, die mir auf mein armes,
krankes Herz gedrückt hatte, verließ mich. Ich konnte wieder atmen. Ich war, wir waren
gerettet.
Wir rollten in die Station Lundenburg ein. Tschechische Aufschriften, tschechische Uniformen. Und
plötzlich kam so ein Uniformierter zu uns herein und rief, für einen Tschechen ungewöhnlich
akzentfreien Deutsch: „Wer einen österreichischen
Paß hat, aussteigen! Österreichische
Staatsbürger dürfen die Grenze nicht passieren!“
Und es war wahr. Wir protestierten; wir baten. Nichts half. Wir wurden unter Androhung von
Gewalt in einen großen Wartesaal getrieben, jenen scheußlichen, gefängnisähnlichen Saal, der
in der ersten Zeit nach dem Krieg ganz allgemein „die Hölle von Lundenburg“ genannt worden
war, so furchtbar brutal waren damals hier die Gepäckrevisionen.