EHRI-BF-1998_DE

Richard A. Bermann über seine gescheiterte Flucht in die Tschechoslowakei

Date1998
Bibliographic referenceRichard A. Bermann , <emph rend="italic">Die Fahrt auf dem Katarakt: Eine Autobiographie ohne Helden</emph>, Hg. von Hans-Harald Müller (Wien: Picus 1998), 321-324. Original auf Deutsch.

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Zu Beginn des Abends ging ich, wie gewöhnlich um diese Stunde, ins Café Herrenhof; ich hatte dort eine Verabredung mit einem meiner reichsdeutschen Emigranten, einem ausgezeichneten lyrischen Dichter. Wir besprachen, wie seine Abreise aus Wien rasch zu bewerkstelligen wäre, und ich gab ihm ein wenig Geld. Dann wandte sich unser Gespräch literarischen Dingen zu, und wir diskutierten eben, sehr in den Gegenstand versunken, die Verse Stefan Georges, als mich eine Hand sanft an der Schulter berührte. Neben mir stand mein Freund Otto, sehr blaß, aber ganz ruhig. Er sagte: Vor zehn Minuten hat Schuschnigg im Radio verkündet, er danke ab, und man solle den einrückenden deutsche Truppen nur keinen Widerstand entgegensetzen.

Ich sah um mich und bemerkte, daß die große Kaffeehaushalle fast leer war. Auch der Kellner war nicht zu finden. Ich fürchte, ich bin dem Café Herrenhof meine letzte Konsumation schuldig geblieben, eine Schale Nußbraun. Mit Otto verließ ich rasch das Café und nahm in der Herrengasse ein Taxi. In den Straßen war kein Mensch. Zu Hause öffnete ich einen schon bereit stehenden Handkoffer, der den nötigsten Reisebedarf enthielt, und stopfte rasche Anzahl Papiere hinein, alle auf meine Funktionen bei der American Guild bezüglich. Wenigstens das sollten die Nazis nicht finden. Unterdessen sah Otto im Fahrplan nach. Der nächste Zug ins Ausland ging in einer Stunde vom Nordbahnhof ab. Ich überlegte, ob ich nicht noch eine Stunde länger warten und bei Ödenburg über die ungarische Grenze fahren sollte, dann entschied ich mich leider für die tschechoslowakische Grenzstation Lundenburg. Den Weg in die Schweiz zu nehmen, wagte ich nicht mehr, überzeugt, daß die Westbahnstrecke schon in den Händen der Nazis sein müsse.

Ich nahm einen kurzen, schmerzlichen Abschied von meiner lieben, alten Haushälterin und fuhr mit Otto zum Bahnhof. Ich kam früh genug, um im Zug noch einen Sitzplatz zu finde; wenige Minuten darauf waren alle Coupés überfüllt. Ich kannte die meisten meiner Mitreisenden persönlich oder wurde von ihnen gekannt; sie waren fast alle auf irgendeine Art prominent und hatten alle triftige Gründe, Österreich rasch zu verlassen, sei es, daß sie gegen die Nazis aufgetreten waren, sei es, daß sie einfach Juden waren und mit großem Recht den kommenden antisemitischen Terror fürchteten. Einer meiner Coupégenossen war der in Wien berühmte jüdische Komiker Fritz Grünbaum; er hatte allabendlich in einem Cabaret ausgezeichnete Witze vorgetragen, die ihn bei den völlig humorlosen Nazis keineswegs so beliebt gemacht hatten wie bei dem Rest seines Publikums. Ein anderer war Robert Danneberg, ein führendes Mitglied der sozialdemokratischen Partei und ein Funktionär der einstigen Wiener Gemeindeverwaltung.

Im letzten Augenblick erschien auf dem Bahnsteig Hedwig F., Ottos Cousine und Freundin seit fernen Jugendtagen, unverheiratet, trotz einer ganz kleinen Statur robust und energisch, eine bewährte Bergsteigern und gute Kameradin. Sie hatte beschlossen, mich nicht allein reisen zu lassen; meine Krankheit machte nämlich meinen Freunden viel Angst, und sie trauten mir nicht zu, den Strapazen und Aufregungen einer Flucht allein standzuhalten.

Wir fuhren. Die damalige Grenzstation Lundenburg ist von Wien nicht viel mehr als zwei Schnellzugstunden entfernt, aber es waren zwei Stunden voll fürchterlicher Spannung. Würden wir glatt über die Grenze kommen? Wohl hatte jeder von uns einen gültigen Paß; der meine war erst am vorhergehenden Tag auf fünf Jahre erneuert worden, ein Prachtexemplar von einem braungelben österreichischen Paß, für alle Länder der Erde gültig. Pässe hatten meine Reisegefährten auch, aber nicht alle hatten die bestehenden Vorschriften über die Ausfuhr von Devisen so mustergültig eingehakten wie ich und hatten nun Angst, man könnte bei der Grenzrevision ihre im Gepäck versteckten Gelder finden.

Wir kamen an den Lundenburg gegenüberliegenden österreichischen Grenzort. Dort hielt der Zug lange Zeit, ohne daß jemand zu uns ins Coupé gekommen wäre, um unsere Pässe oder unser Gepäck zu revidieren. Vermutlich herrschte an diesem Abend in der Grenzstation Unordnung; die neuen Herren Österreichs mochten ihre Kontrollen noch nicht organisiert haben. Auf einmal wir trauten unseren Sinnen nicht setzte sich der Zug wieder in Bewegung und fuhr weiter, über die Grenze, in die freie Tschechoslowakei hinein! Eine dumpfe Beklemmung, die mir auf mein armes, krankes Herz gedrückt hatte, verließ mich. Ich konnte wieder atmen. Ich war, wir waren gerettet.

Wir rollten in die Station Lundenburg ein. Tschechische Aufschriften, tschechische Uniformen. Und plötzlich kam so ein Uniformierter zu uns herein und rief, für einen Tschechen ungewöhnlich akzentfreien Deutsch: Wer einen österreichischen Paß hat, aussteigen! Österreichische Staatsbürger dürfen die Grenze nicht passieren!

Und es war wahr. Wir protestierten; wir baten. Nichts half. Wir wurden unter Androhung von Gewalt in einen großen Wartesaal getrieben, jenen scheußlichen, gefängnisähnlichen Saal, der in der ersten Zeit nach dem Krieg ganz allgemein die Hölle von Lundenburg genannt worden war, so furchtbar brutal waren damals hier die Gepäckrevisionen.


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