[...] Auch in Prag
hatten wir Familie, dort war die Familie von Onkel
Schmolka, das war der Schwager, der Ehemann der Schwester meiner Mutter. Sie
waren sehr reich und man wusste über sie, dass sie in Prag die besten Beziehungen
haben und dass sie alles einrichten können. Ihnen ist es auch gelungen meine Aufnahme an der
Textilschule in Brünn
zu veranlassen. So habe ich auch ein Visum
für die Tschechoslowakei erhalten. Ich bekam den Vorschlag –
Harry fliegt nach Prag, am Flughafen wird ein
Rechtsvertreter der Schmolkas sein, dieser und die Schmolkas werden
alles regeln, damit er in Brünn an der Schule angenommen wird. In der Zwischenzeit habe ich Tschechisch
gelernt, was für mich überraschend mühsam war. Am Flughafen war der Rechtsanwalt, oder die
Rechtsanwälte, und noch weitere „wichtige“ Leute und das einzige, was sie erreichten, war,
dass ich direkt vom Prager Flughafen ins Polizeigefängnis gebracht wurde. Dies deshalb, weil ich
unerlaubt die Grenze übertreten hatte. Ich war dort in der Zelle Nr. 13. Weil ich
nur ein wenig Tschechisch konnte, war es kein so besonderes Erlebnis An der Wand stand mit
Bleistift auf Deutsch geschrieben: „Geh zurück nach Hause, dort ist es besser!“ Das Essen
habe ich nicht gegessen, es war schrecklich, und in den tschechischen
Zeitungen konnte ich nur die Sportergebnisse lesen, ich konnte nicht einmal Sparta und
Slavia entschlüsseln. Am nächsten Morgen brachten sie mich zum Prager Polizeipräsidenten, und der sagte mir, dass ich mit dreißig Tagen Gefängnis bestraft würde, wenn ich nicht noch am gleichen Tag nach Österreich
zurückkehrte. Als ich aber Österreich
verlassen hatte, hatte ich unterschrieben, dass ich dorthin als Jude
unter Todesstrafe nicht mehr zurückkehre. Das interessierte allerdings niemanden besonders,
wir verabschiedeten uns, er sprach deutsch. Er gab mir jedoch noch eine wichtige Aufgabe,
dass ich, sobald ich nach Wien zurückkehrt sei im Fall meines Überlebens Kontakt mit der
tschechische
Botschaft in der Cumberlandstraße in Wien aufnehmen solle und
dass ich ihnen augenblicklich melden müsse, falls ich auf dem Weg irgendwelche
ungewöhnlichen Bewegungen der Armee, also der deutschen Armee
feststellen sollte. Es war sehr schön über die Todesstrafe zu sprechen, aber falls ich ihr
doch entrinnen würde, sofort wieder so handeln sollte, dass mir eine andere Strafe drohte.
Danach steckten mich zwei Detektive ins Auto und fuhren mit mir als Akt der Freundschaft am
Schmolkovic-Palais auf dem Altstädter Ring vorbei, wo Onkel Franz und Tante Stella waren.
Und auch noch Großvater Schmolka und das einzige, was er zu mir sagte, war: „Wozu haben sie
dich hierhergeschickt?“ Ich hatte großes Glück, ich halte mich für einen glücklichen
Menschen. Glücklich in dem Sinn, dass, wenn ich an diese Textilschule in Brünn gekommen wäre, niemals
raus gekommen wäre, denn bald danach besetzten die Deutschen die Tschechoslowakei.
Weil ich nicht Tschechisch konnte, wäre ich aufgefallen und mit Sicherheit umgekommen. Das
heißt, das war Glück. Meine Eltern wussten überhaupt nicht, was passiert war. Sie steckten
mich in das nächste Flugzeug und ich flog nach Wien. Niemand am Flughafen
besah sich meinen Pass und ich fuhr von dort aus mit der Straßenbahn zu den Eltern. Sie
waren sehr überrascht, als sie mich sahen. Die folgenden beiden Monate beschäftigten sie
sich damit, was aus mir werden würde. Es war klar, dass ich raus musste. Mit Hilfe eines
Bekannten meiner Eltern und der Schwester erhielt ich ein falsches Transitvisum über Frankreich. Das
auf normalem Weg beantragte Transitvisum dauerte lange, man musste das Zielland kennen und ein Eintrittsvisum dafür haben. Am 30. September l938
machte ich mich auf den Weg, nachdem ich mich von meinen Eltern verabschiedet hatte, stieg
ich in den Zug und fuhr nach Paris. Dank einer französischen Gouvernante sprach ich fließend Französisch,
auch hatte ich einige Male die Ferien in der Schweiz oder in
Frankreich verbracht. Französisch
fließend zu beherrschen gehörte in Österreich zur
guten Erziehung. In Straßburg hatte ich noch ein paar letzte Mark, ich steckte sie in einen
Umschlag mit der Adresse, klebte eine Briefmarke darauf und schickte sie zurück an die
Eltern. Diese erhielten sie jedoch nie. Am Grenzübergang bei Straßburg kam der
Passkontrolleur, der sich mein Visum
sehr sorgfältig ansah, denn es war ein Transitvisum. Er fragte mich, wohin ich fahre, dass
ich ohne ein Eintrittsvisum in irgendein Zielland jedoch kein Transitvisum haben könne. In diesem Moment rief ihn jemand zu sich, irgendein
anderer Kontrolleur. Danach kam niemand mehr in unser Abteil. So gelangte ich nach
Frankreich, eigentlich dank Zufall. Ich möchte nur noch hinzufügen, dass es
am 30. September während eines zweistündigen Aufenthalts in
München beim
Umstieg am Bahnhof war, als am Nebengleis der Zug von Mussolini
eintraf. Es war der Tag, an dem Mussolini,
Chamberlain usw. den „großen Frieden“ schlossen – der 30. September l938 [...]