EHRI-BF-1991_DE

Georg Scheuer über seine Flucht in die Tschechoslowakei

Date1991
Bibliographic referenceScheuer, Georg. <emph rend="italic">Nur Narren fürchten nichts: Szenen aus dem dreißigjährigen Krieg 1915-1945</emph>. (Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1991), 99-100. Original auf Deutsch.

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Der Autobus Wien-Znaim schwankt durch aufgewühltes Land. In den Dörfern steigen betrunkene Bauern ein und verwünschen die Juden. Auf den Dorfstraßen singen Bauernburschen nationalsozialistische Lieder. Ich vermute zuerst regionale Unruhen, will noch nicht begreifen, daß Österreichs letzte Stunde schlägt. Unser Wagenlenker bleibt oft lang in Wirtshäusern, um Radiomeldungen zu hören. Schuschnigg hat abgedankt: Gott schütze Österreich! Der deutsche Einmarsch steht bevor.

Juda verrecke, brüllt ein Betrunkener, der einige Kilometer mit uns fährt. Ich beruhige meine Mutter mit leisen Worten. Das ereignislose Gefängnisdasein sitzt mir noch in den Knochen, ich empfinde alles rundum wie ein unwirkliches Schauspiel. Jude verrecke, grölt er wieder und steigt im nächsten Dorf mit anderen Burschen aus.

Die Grenze ist nahe. Außer uns will an diesem Abend hier niemand mit diesem Bus das Land verlassen. Am Grenzübergang stehen noch österreichische Zollbeamte und Gendarmen. Der Anschluß hat Niederösterreich noch nicht erreicht. Aufmerksam prüft der Beamte meinen Paß. Jahrgang 1915. Sie sind militärdienstpflichtig. Ich kann Sie nicht hinauslassen. Meine Mutter wird im Nebenraum von weiblichen Beamten durchsucht. Ich habe nie Militärdienst geleistet, war seit zwei Jahren im Gefängnis und bin soeben amnestiert worden. Er prüft meinen Haftentlassungsschein, schaut mich groß an, fünf Jahre Zuchthaus, bedingt entlassen, darf er mich denn unter diesen Umständen überhaupt aus dem Land lassen?

Jetzt geht es auf Leben und Tod, trotzdem spiele ich nicht mit, lasse alles geschehen. Im Geist sehe ich schon, wie wir mit dem gleichen Autobus wieder zurückfahren, vielleicht verhaftet, vielleicht gelyncht. Der Beamte grübelt, blättert. Schließlich telefoniert er mit seinem Vorgesetzten. Am anderen Ende antwortet eine Stimme, ich höre sie, verstehe sie aber nicht. || Gut, sagt der Grenzbeamte und legt den Hörer auf. Gut, das kann alles bedeuten und nicht unbedingt Gutes. Wir haben keine Regierung mehr, also fahren Sie. Die alte Autorität ist untergegangen, die neue noch nicht eingerichtet. Ein Vakuum von einigen Stunden, vielleicht nur einigen Minuten. Wir rollen schon auf tschechoslowakischen Boden.

Znaim. Ein Kellner bestätigt uns, daß Österreich zu existieren aufgehört habe. Das ist der Beginn des Zweiten Weltkrieges, sage ich nachher zu meiner Mutter, die Westmächte werden das nicht zulassen. Am nächsten Tag kann ich die jungen Leute in Znaim mit ihren weißen Strümpfen bewundern, das schwer zu verbietende Bekenntnis zum Nationalsozialismus. Aus Lautsprechern tönt eine heisere Stimme: Hitler! Tosende Heilrufe und Gesänge, trunken von Begeisterung: Wir werden weitermarschieren, wenn alles in Scherben fällt


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