Vertreibung aus der Heimat
Mein Bruder Sándor hat nach Wien geheiratet. Im 10.
Bezirk hatte er eine Firma. Er war auch im Vorstand bei einer der Zionistenbewegungen und zuständig für die Kinder.
Er hat, als Hitler gekommen ist, jüdische
Kinder nach Israel und in andere Länder gebracht. Er blieb bis zum letzten Transport in
Wien, obwohl er
selbst ein Kind hatte. Wir waren schon in Palästina und boten
an, es aufzunehmen, aber er wollte nicht glauben, dass es noch schlimmer kommen sollte. Wir
haben ihn gedrängt, wenigstens sein Kind zu
retten. Da hat er gesagt: „Was mit mir passieren wird, das wird auch meiner Tochter
passieren!“ Schließlich flüchtete er dann doch mit einem Schiff aus Jugoslawien. Da waren 300 Leute auf dem Schiff, als es die Deutschen
angegriffen haben. Es ist in Flammen aufgegangen und versunken. Er war auf diesem Schiff.
Zwei meiner Schwestern kamen illegal nach Israel und leben
heute in Bnei
Brak.
An den März 1938 in Gols kann ich mich noch gut erinnern. Vom Dachbodenfenster aus habe ich
gesehen, wie die Golser Nazis mit der Hakenkreuzfahne gingen – und die restliche Bevölkerung ihnen nach. Nicht einer ist
zu Hause geblieben. Da wussten wir, was kommen würde. Es hieß jetzt bereits: „Kauft nicht
bei Juden!“ Ich bin nicht mehr zur Schule
gegangen und die Leute sind nur von hinten in das Geschäft gekommen. Man sollte nicht sehen,
dass sie bei uns einkaufen. Wenn die Menschen heute sagen, sie hätten damals von Hitler nichts
wissen wollen, ist das nicht wahr!
Nach etwa zwei Wochen ist eines Nachts die Gestapo gekommen.
Sie brachten das Tor auf, holten meinem Vater aus dem Bett und brachten mit verbundenen
Augen in irgendeinen Keller. Dort hat man ihn verhört und gezwungen zu unterschreiben, dass
er auf sein gesamtes Vermögen zugunsten des Deutschen
Reiches verzichtet. Auf dem Tisch lag ein Revolver: „Entweder du
unterschreibst oder der Revolver wird sprechen“, hieß es. Also hat er unterschrieben.
Ob auch Leute aus Gols dabei waren, weiß ich nicht. Vielleicht war der eine oder andere aus
Gols, aber ich kann
es nicht sagen, ich weiß es nicht. Ich habe später Unterschriften von verschiedenen Leuten
auf Dokumenten gefunden, in denen steht, wem man das Haus zukommen lassen wollte. Da war ein
Nazi von irgendwo her, der schrieb, dass er keine Arbeit hätte und man für ihn sorgen
müsste. Da hat man in das Haus gegeben. Diese Akten habe ich jetzt erst bekommen. Jemand aus
unserer Familie wollte wegen einer Entschädigung ansuchen und hat die Akten angefordert.
„Izchak, stell dir vor“, hat er gesagt, „da steht sogar drinnen, wie viel Teller in unserem
Haus waren!“
Mein Vater hat gern in Gols gelebt, aber obwohl er viel Gutes getan hatte – es hat nichts genützt.
Am nächsten Tag, das war der 26. März, hat man uns vertrieben, die drei jüdischen Familien aus Gols: Familie Brock, Familie Friedmann und uns. Man hat uns mit einem
Lastwagen zur ungarischen Grenze gebracht. Noch bevor wir dort ankamen, wurden wir
durchsucht. Wir mussten uns nackt ausziehen und mich hat man am ganzen Körper untersucht, ob
meine Eltern bei mir irgendwo Edelsteine oder Schmuck versteckt hätten. Am Tag unserer
Vertreibung hatte mir meine Mutter einen Rucksack mit Essen
und meine Geige gegeben und gesagt: „Damit wirst du ein paar Tage auskommen müssen und mit
der Geige musst du spielen, damit du dich am Leben erhalten kannst!“ Aber die Geige war das
Erste, was uns die Gestapo weggenommen hat: „Die wirst du nicht mehr brauchen!“ Das war für meinen
Vater schon ein schlimmes Zeichen für das, was uns noch bevorstand. Man hat mir nur eine
Gabel gelassen. Die ist mir auch geblieben. Um die Gabel habe ich gekämpft. Ich wollte sie
mir nicht nehmen lassen, sondern etwas als Erinnerung behalten.
An der Grenze wussten weder die Ungarn noch die Österreicher,
was sie mit uns tun sollten. Man hatte noch keine Anweisungen, wie mit den Juden
umzugehen ist. Zumindest damals wollte man sie noch nicht erschießen. Letztlich hat man uns
dann nach Ungarn
abgeschoben. Im Mondlicht sind wir gegangen und gegangen und gegangen, bis wir auf
ungarisches
Staatsgebiet gelangten. Mein Vater schleppte mich bis nach Rajka an der slowakischen
Grenze. Dort hatte man uns in einem Stall untergebracht. Ich erinnere mich noch, dass ich
kaum mehr gehen konnte. Mein Vater hatte mich ein gutes Stück getragen. Zwei, drei Tage
wussten wir nicht, was wir tun sollten und was kommen würde. Erschießen wollte man uns nicht
und zurück durften wir nicht. Schließlich erfuhren Juden
in Preßburg von
unserem Schicksal und mieteten daraufhin ein Donauschiff. Es war ein Schleppkahn für
Getreide und Vieh, auf den wir schließlich zusammen mit anderen Juden
verladen wurden.
Leben auf dem Donaukahn
Die ersten paar Tage konnten wir es im Laderaum nicht aushalten, weil es so gestunken hat.
Man hat auf den Karren siebzig Personen zusammengepfercht. Ungarische
Juden aus den nahmen Gemeinden haben für uns gesammelt und jeden Tag Essen
gebracht. Das Schiff lag auf der Donau an irgendeiner kleinen Insel zwischen Österreich,
Ungarn und der
Tschechoslowakei, dort hatte man uns festgehalten. Auf dem Schlepper Waren
wir fast ein halbes Jahr. Ungarische
Gendarmen haben uns bewacht, damit wir nicht flüchten konnten. Doch wie hätten wir
denn entlaufen können?
Wir sind auf Strohsäcken gelegen. Siebzig Menschen – können Sie sich vorstellen, wie
angenehm das ist? Aber um uns Juden
kümmerte man sich damals nicht. Wo jeweils ein Teil von uns konnte schlafen, da nicht alle
gleichzeitig Platz fanden, dann wurde getauscht. Der Herr
Friedmann – er war ja Lehrer – hat uns, wir waren zehn oder zwölf Kinder,
Iwrit beigebracht. So hat man dort die Zeit verbracht. Auf dem Schiff haben zwei, drei von
den Älteren den Alltag geregelt. Wenn so viele Leute auf engem Raum zusammenleben
müssen, kann es zu Konflikten kommen. Für die Kinder
hat man gesorgt und ist mit ihnen spazieren gegangen, den alten Leuten hat man geholfen, die fünfzehn Stufen ins Innere des Schleppers
hinunterzusteigen. Man musste ja immer wieder ins Freie gehen, da unten keine gute Luft war.
Wenn man den Fotos sieht, könnte man glauben, es war ein Picknick. Aber zu so einem Picknick
würde ich niemanden einladen!
Ich weiß noch: Der Bruder meines Vaters, der in Preßburg lebte, hat uns
besucht. Vater hat ihm geraten aus Preßburg zu fliehen.
Aber er hat gesagt: „Zu uns werden die Nazis nicht kommen, wir sind geschützt!“ Er war der
Erste aus unserer Familie, der im Krematorium gelandet ist. Man wusste nicht, was man mit uns machen sollte.
Dann hat ein Reporter von der „New York Times“ von der Geschichte des Schiffes in
Rajka gehört. Er
hat sich auf das Schiff geschmuggelt und fotografiert, wie wir leben mussten. Das Bild hat
in New York
für ziemliche Aufregung gesorgt. Da hat man uns dann gefragt, wo wir hinwollten. Da wir
Juden und Zionisten waren – in meiner Familie gab es begeisterte Zionisten –, war es für uns klar: Palästina.
Man hat uns dann schließlich Zertifikate für Palästina
verschafft. Damit waren unsere Schwierigkeiten aber noch nicht vorbei. Erst mussten uns die
Ungarn
durchlassen. Auch die Rumänen hatten Angst, dass wir am Ende im Land bleiben würden. Es war eine
komplizierte Sache. Ich habe noch heute das Dokument mit der Unterschrift des ungarischen Innenministers,
dass er die Verantwortung dafür übernimmt, dass wir nur durchreisen. Auch von den Rumänen habe ich noch das
Durchreisevisum. Letztendlich kamen wir im Oktober 1938 in Haifa an.