Der Autobus Wien-Znaim schwankt durch aufgewühltes Land. In den Dörfern steigen betrunkene
Bauern ein und verwünschen die Juden
. Auf den Dorfstraßen singen Bauernburschen nationalsozialistische Lieder. Ich vermute zuerst regionale Unruhen, will noch
nicht begreifen, daß Österreichs
letzte Stunde schlägt. Unser Wagenlenker bleibt oft lang in Wirtshäusern, um Radiomeldungen
zu hören. Schuschnigg hat abgedankt: “Gott schütze Österreich!”
Der deutsche Einmarsch steht bevor.
Juda verrecke, brüllt ein Betrunkener, der einige Kilometer mit uns fährt. Ich
beruhige meine Mutter mit leisen Worten. Das ereignislose Gefängnisdasein sitzt mir noch in
den Knochen, ich empfinde alles rundum wie ein unwirkliches Schauspiel. Jude
verrecke, grölt er wieder und steigt im nächsten Dorf mit anderen Burschen aus.
Die Grenze ist nahe. Außer uns will an diesem Abend hier niemand mit diesem Bus das Land
verlassen. Am Grenzübergang stehen noch österreichische
Zollbeamte und Gendarmen. Der
Anschluß hat Niederösterreich noch nicht erreicht. Aufmerksam prüft der Beamte meinen
Paß. Jahrgang 1915. Sie sind militärdienstpflichtig. Ich
kann Sie nicht hinauslassen. Meine Mutter wird im Nebenraum von weiblichen Beamten
durchsucht. Ich habe nie Militärdienst geleistet, war seit zwei Jahren im Gefängnis und bin
soeben amnestiert worden. Er prüft meinen Haftentlassungsschein, schaut mich groß an, fünf Jahre Zuchthaus, bedingt
entlassen, darf er mich denn unter diesen Umständen überhaupt aus dem Land lassen?
Jetzt geht es auf Leben und Tod, trotzdem
spiele ich nicht mit, lasse alles geschehen. Im Geist sehe ich schon, wie wir mit dem
gleichen Autobus wieder zurückfahren, vielleicht verhaftet,
vielleicht gelyncht. Der Beamte grübelt, blättert. Schließlich telefoniert er mit seinem
Vorgesetzten. Am anderen Ende antwortet eine Stimme, ich höre sie, verstehe sie aber nicht.
|| Gut, sagt der Grenzbeamte und legt den Hörer auf. Gut, das kann alles bedeuten und nicht
unbedingt Gutes. Wir haben keine Regierung mehr, also fahren Sie. Die alte Autorität ist
untergegangen, die neue noch nicht eingerichtet. Ein Vakuum von einigen Stunden, vielleicht
nur einigen Minuten. Wir rollen schon auf tschechoslowakischen
Boden.
Znaim. Ein Kellner
bestätigt uns, daß Österreich zu existieren aufgehört habe. Das ist der Beginn des Zweiten
Weltkrieges, sage ich nachher zu meiner Mutter, die Westmächte werden das nicht zulassen. Am
nächsten Tag kann ich die jungen Leute in Znaim mit ihren weißen
Strümpfen bewundern, das schwer zu verbietende Bekenntnis zum Nationalsozialismus. Aus Lautsprechern tönt eine heisere Stimme: Hitler!
Tosende Heilrufe und Gesänge, trunken von Begeisterung: Wir werden weitermarschieren,
wenn alles in Scherben fällt…