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I. 9. Die Gepflogenheit der mittelalterlichen Herrscher,
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ihre Urkunden mit ihrem Schatze unter dem Schutze der Reli-
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quien auf ihren Wanderzügen überallhin mitzuführen, ja diese
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Selbst in das Kampfgetümmel mitzunehmen, mute sicherlich
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nicht selten für den Bestand der mittelalterlichen Archive ver-
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hángnisvoll werden. Unwillkürlieh müssen wir da an das alte
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Archiv der deutschen Könige denken und die Tatsache, daß wir
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ein solches gegenwärtig nicht mehr besitzen, mit jener Gepflo-
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genheit in Zusammenhang bringen. Allerdings haben vor allem
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Bresslau und Löher die Existenz eines alten deutschen Reichs-
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archives geradezu in Abrede gestellt. Auch S. Herzberg-Fränkel
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erklärte den Bestand eines geordneten deutschen Reichsarchi-
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ves für fraglich. Demgegenüber hat schon Ficker und dann mit
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besonderem Nachdruck Seeliger darauf hingewiesen, daß die
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uns in Pisa erhalten gebliebenen Überreste, die bis auf Rudolf
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von Habsburg zurückgehen, trotz aller Dürftigkeit einen un-
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wiederlegbaren Beweis dafür bieten, daß es eine Verpflichtung
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gegeben hat, der zufolge die Privaterben eines deutschen Königs
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an dessen Nachfolger die Reichsarchivalien ebenso ausliefern
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mußten wie die Reichsinsignien. In dem »Inventarium de iocali-
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bus et clenodiis d. imperatoris« vom Jahre 1313 werden neben
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den Reichsinsignien, Juwelen, Gold- und Silbersachen auch
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Urkunden angeführt. Das deutsche Reichsarchiv wird wahr-
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scheinlich einer Katastrophe zum Opfer gefallen sein, Vorläufig
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vermag man über sein Schicksal nichts Näheres zu sagen; es
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ist sozusagen spurlos vernichtet worden.

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I. 10. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß auch das
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Kronarchiv von Aragon, eines der ersten Archive des Abend-
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landes, ursprünglich auch nur einen Teil des aragonesischen
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Kronschatzes gebildet hat. Wie innig der Zusammenhang zwi-
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schen Archiv und Schatz war, darauf deutet ganz besonders
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eine uns aus dem 14, Jahrhunderte erhalten gebliebene Instruk-
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tion für die Archivare des angiovinischen Königreiches Neapel
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hin. Bei den Archiven der slavischen Herrscher des Mittelalters
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können wir den gleichen Charakter wie sonst überall beobach-
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ten. Wie aus den ältesten Geschichtsquellen Kroatiens ersicht-
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lich ist, wurden in ältester Zeit die königlichen Urkunden in der
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Residenz des Königs in der sog. »capella regia« verwahrt. Das
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Archiv der Arpadenkönige wird schon auf Wisegrad (in Un-
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garn) einen Teil des Schatzes gebildet haben. Gegen Ende der
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Herrschaft der Könige aus dem Hause Anjou wurden die unga-
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rischen Staatsurkunden im Hause des Tavernicus (»in domo
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thezauraria reginali«, »in domo tavernicali«) zu Buda unter-
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gebracht. Aber auch bei den nordischen Herrschern lagen der
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Schatz und die Briefe des Reiches (»rigens tresel [trésor]. och
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brefve«) stets beisammen. In der ältesten Kirche Kiews,

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