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Jene Massen waren nach Prag gekommen getragen von fanati-
scher Begeisterung, deren Guelle der Chiliasmus bildete, welcher eben
damals seinen Höhepunkt erreicht zu haben scheint.
Die Schwármer!) verkündeten die Nähe der Wiederkunft Christi,
nicht des Richters des letzten Weltgerichtes, sondern des Königs des
tausendjährigen Reiches, das jenem vorangehen solle. Nur die Erwähl-
ten Gottes werden in ihm wohnen: die Verstorbenen, die auferstehen
werden, — unter ihnen Johannes Hus — und von den Lebenden die-
jenigen, die den Ruf der Verkündigung glàubig vernehmen. Die Gott-
losen dagegen wird, wie einst Sodoma und Gomorrha, ein plótzliches
Strafgericht vertilgen, in dem nur diejenigen gerettet werden, die sich
auf „die Berge“ flüchten, in die „fünf Städte“, die allein übrig blei-
ben sollen.
Die Genossen des tausendjährigen Reiches werden auf einer hö-
heren Stufe der Vollkommenheit stehen, als die Angehörigen der er-
sten apostolischen Kirche. Frei von äusserer Verfolgung und Bedräng-
nis, werden sie auch die hóchste Stufe der inneren Yreiheit erreichen,
auf der es keiner Zuchtmittel, keiner Belehrung bedarf; die Sonne
des menschlichen Verstandes wird nicht mehr leuchten, sondern alle
werden Gelehrte Gottes sein, unmittelbar von Gott das innere Licht
empfangend. Wenn schon jetzt in den Tagen der Erwartung alle Men-
schensatzung fallen und die Dibel allein gelten soll, so wird dann,
wenn die Zeit der Erfüllung kommt, auch die Schrift unnütz werden.?)
Das neue Gesetz, das jeder in seinem Herzen eingepriigt tragen wird,
wird viele Destimmungen des alten, geschriebenen aufheben,?) nament-
lich auch da, wo es gebietet, den Kónigen und der Obrigkeit unter-
than zu sein. Der Staat und sein Organismus wird sich auflósen, alle
Zinspflicht aufhóren, Jagd und Fischerei. frei sein. Die Gerechten
werden in einem überreichen Überflusse leben, da. die Güter der Gott-
losen ihnen zufallen sollen. Es wird eine allgemeine Gleichheit herr-
schen, ohne König, ohne Unterschied der Stände, denn die Recht-
satzungen, die sie gegen einander abgränzen, auch diejenigen, die
!) Vgl. insbesondere Pfíbrams Schrift gegen die Priester der Taboriten. (Im
Auszug gedr. in der Zeitschrift der kath. Geistlichkeit — C. K. Duch. — Jahr-
gang 1863.)
2) Koranda predigte in Pilsen, wie Piibram erziihlt, die Erwáàhlten Gottes,
die iibrig bleiben werden, wiirden keiner Biicher bediirfen. „Ich móchte,* so sagte
er, „meine Bibel, einige Schock wert, gleich bei einer Höckersfrau für drei Heller
verpfänden und sie nie wieder auszahlen,“
3) Sie predigten, alle Gesetze, mögen sie die Fürsten, das Land, die Städte,
die Bauernschaft betreffen, würden aufhören, auch gute und nützliche, da sie als
Satzungen der Menschen und nicht Gottes aufgehoben werden sollen (Příbram).